Die Sünden einer Nacht

Die Sonne ist mal wieder viel zu früh aufgestanden. Nicht so sanftmütig wie sonst, sondern aggressiv und unermüdlich kitzeln ihre Strahlen meine Augen und machen mir unmissverständlich klar: Aufstehen du Lappen. Vorsichtig öffne ich die Lider, nur um sie direkt, unter einem Aufschrei, wieder zu schließen. Die Informationen der restlichen Körperteile kriegen das mit und feiern eine spontane Zusammenkunft im Großhirn. Wasserhaushalt: Sahara. Mund: trocken. Hals: rau. Hand: aua. Kopf: noch mehr aua. Ich stöhne und wälze mich auf die andere Seite. Verdammt ist das Bett hart. Bringt nichts. Die weiße Wand steckt mit der Sonne unter einer Decke. Die sonst so matte Oberfläche glänzt wie in bester Alpina Werbefilmkunst und reflektiert die Strahlen ungeniert. Ich fluche innerlich. Wieso zur Hölle hab ich gestern eigentlich…, ja was hab ich eigentlich getrunken? Mein Kopf sucht nach dem Stück Information über die Getränkekarte des gestrigen Abends. Ich breche den Vorgang nach zehn Sekunden ab. Die daraus entstehenden Kopfschmerzen stehen in keinem Verhältnis zum Informationsgewinn.

Ich drehe mich trotz akuter Übelkeitsgefahr auf den Bauch; dort angekommen starte ich einen neuen Versuch. Ein Auge. Langsam. Ganz langsam öffne ich es. Ich kann Farben erkennen. Es tut weh, aber ich kann es ungefähr so weit öffnen, dass es einem Bankkartenschlitz gleicht. Übelkeit steigt in mir auf. Mein Magen ist aufgewacht und schreit nach Reklamation. Mühsam öffne ich das andere Auge. Stöhnen. Ich merke, dass ich vergessen habe zu schlucken, als mein Kinn beginnt feucht zu werden. Mittlerweile kann ich auch wieder gucken, wenn auch ziemlich verstrahlt. Ich bringe meine Arme in Position nehme allen meinen Mut zusammen und stoße mich vom Bett ab. Gefühlt fliege ich bis zur Decke. In Wahrheit schaffe ich es immerhin mich auf den Rücken zu legen. Sterne. Ich atme tief ein und aus. Übelkeit. Ich fluche.

*rülps!* sry!” höre ich es in tiefster Katerstimme neben mir. Panik. Wer ist das? Erinnerungen!? Fehlanzeige! Ich überlege was ich tun kann. Dezent drehe ich den Kopf ganz langsam in Richtung Stimme. Ich sehe… Farbkleckse. Verdammt wo habe ich gestern meine Brille hingelegt? Ich hoffe nicht ins Bad. Mühsam bewege ich die Hand in Richtung Nachttisch. Etwas unbeholfen tappst meine Hand über Bücher, Gläser, Medikamente und “Heureka” meine Brille. Ich setzte sie auf und schaue wieder in Richtung Stimme. Mittellange schwarze Haare und die Form der Decke lassen ein weibliches Wesen erkennen. Wieso? warum? woher? Bevor auch nur eine dieser Fragen beantwortet werden kann, dreht sie sich zu mir um. Ein schönes Gesicht, dunkelgraublaue Augen, einen Schönheitsfleck auf der linken Wange – die Frage Warum ist beantwortet.

Sie fängt an zu grinsen, schief und nur ganz kurz, dann guckt sie wieder ernst, räuspert sich und in einer nicht mehr ganz so schlimm verkaterten Stimme fliegen mir die Worte “Gibt’s hier auch Kaffee?” um die Ohren. Vom Abend, dem Aspirin und ihrer Erscheinung in meiner Wohnung komplett verwirrt, nicke ich nur dezent in Richtung Küche – “Da gibt’s Senseo. Für die, die nicht so lange warten wollen.” “Musste ich ja gestern Nacht auch nicht” kommt keck die Antwort, während sie aufsteht und nur mit einem meiner T-Shirts bekleidet in die Küche geht. Ich bleibe liegen. Lasse mich wieder in die Kissen fallen. Wer zur Hölle ist diese Dame? Ich kann unmöglich nach dem Namen fragen. Verdammt sei das was ich getrunken habe. Während sie meine Küchenschränke nach Tassen und Kaffeepads durchsucht, suche ich meine Boxershorts und ein T-Shirt. Wieso steht dieser blöde Kleiderschrank auch im Flur. Ich könnte einfach was Frisches anziehen, aber dafür muss ich an der Küchentür vorbei. Also das Bett auf dem Kopf stellen. Leise, aber so schnell wie möglich. Den Kopf gerade unterm Bett und meinen Adonishintern nackt irgendwo in der Luft auf der Suche nach der Boxershorts, kommt sie zurück ins Zimmer und fragt “Willst’ auch ein?”

Kann es noch schlimmer kommen? Ich laufe rot an. Nicht nur weil ich am liebsten im Boden versinken würde, nein auch weil das Blut immer mehr in meinen Kopf steigt und unfassbare Schmerzen hervorruft. Etwas zu schnell hebe ich den Kopf wieder nach oben und knalle gegen die Wand hinter meinem Bett. Schmerz! Schwarz! Hilfe! Sie fängt an zu lachen. Lacht mich an. Lacht mich aus. Ich kann es nicht einordnen. “Suchst du die hier?” fragt sie mich, als wäre ich ein kleines Kind, und holt meine Boxershorts unter ihrer Bettdecke hervor. Wie zur Hölle ist die da… ich zwinge mich, mich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Die Frage der Getränkekarte kommt wieder in meinen Kopf. Wichtig, Kopf, wichtig! Ich richte mich auf und probiere gleichzeitig meine Boxershorts anzuziehen. Schlimmer als die Gymnastikübung von eben kann das auch nicht aussehen – hoffe ich. Sie verlässt immer noch lachend das Schlafzimmer und lässt mich in Ruhe, zum Glück allein, nach meinem T-Shirt suchen.

Ich durchwühle ihr Bett. Fehlanzeige. Immerhin das Shirt scheine ich in meinem Bett gelassen zu haben. Nachdem ich es irgendwo in den Tiefen meines Kissens gefunden habe, tapse ich in Richtung Küche. Ich rieche schon den frischen Kaffee. In der Küche angekommen, sitzt sie im Schneidersitz, mein Shirt über ihre Knie gezogen, an meinem Küchentisch und liest die Zeitung vom Vortag. Ich sehe sie zum ersten Mal vernünftig. Kurze schwarze Haare, das Gesicht erinnert leicht an Natalie Portman (sagt zumindest mein betrunkener Kopf). Sie ist hübsch, was mein Herz sofort schneller schlagen lässt. Als sie meine Schritte auf den kalten Fliesen hört, schaut sie auf, deutet auf die zweite Tasse dampfenden Kaffee und fragt mit dem wohl schönsten Lächeln der Welt “Ich hoffe mit Milch ist okay?”

Mein Herz macht einen Luftsprung. Milch. Perfekt. Der Kaffee. Sie. Alles. Ich schließe meine Augen und trinke den ersten Schluck meines Kaffees. Lasse den Duft in meine Nase strömen, genieße die perfekte Temperatur und schmecke fast jede einzelne Bohne während dieses flüssige Gold meine Geschmacksnerven streift. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffne ich die Augen wieder. Sie sitzt immer noch so grazil wie vor ein paar Minuten auf dem Stuhl mir gegenüber und hat sich wieder in die Zeitung vertieft. Konversation! Du musst Konversation betreiben! – schreie ich mich innerlich an. “Toast?” Ist alles was ich heraus bekomme. Ich Ohrfeige mich selbst. “Wie bitte?” “Ich wollte mir einen Toast machen und dachte ich frage ob du … äh … auch einen willst.” Achso, ja gerne… Den Rest des Satzes bekomme ich nicht mehr mit, da sie meinen Namen erwähnt. Verdammt, sie weiß meinen Namen. Jetzt kann ich sie unmöglich fragen wie sie heißt. Mist Mist Mist. Was mach ich jetzt? Name, Straße, Hausnummer, Nummer.. ja Nummer das ist es, ich frag sie nach ihrer Handynummer, wenn sie geht. Jetzt ist das etwas doof. So mitten im Satz ohne Kontext.

Mit der Tasse Kaffee in der Hand stehe ich wieder auf und beginne das Frühstück vorzubereiten. Um die unangenehme Stille nicht länger nur von klappernden Tellern und raschelnden Zeitungen zu unterbrechen, ermahne ich mich ein weiteres Mal Konversation zu führen. “Studierst du eigentlich?” “Hmm” “Was denn?” “Design” “Oh cool, das wollt ich auch mal machen. In welchem Semester bist du denn?” Im zweiten, außerdem wohne ich in einer WG, habe zwei Katzen und werde meine Kinder Wilma und Kurt nennen. Sonst noch Fragen?” “War ich gute letzte Nacht?” höre ich mich sagen bevor ich nachdenken kann und schaffe es zum ersten Mal sie aus der Fassung zu bringen. Bevor sie antworten kann schiebe ich schnell ein “War nur ein Witz” hinter her und lege ihr eine Scheibe Toast auf den Teller. Der Rest des Frühstücks verläuft in einem wunderbaren ungemütlichen Schweigen. Innerlich hasse ich mich und überlege mir eine Millionen Wege, wie ich diese grandiose Aussage revidieren kann. Sie kaut den letzten Bissen Toast. Schweigen. “Du, ich glaube ich geh mal lieber. Kannst du mal eben gucken wann der nächste Bus in die Stadt fährt?”

Oh Gott. Sie will gehen. Ich muss handeln. Mir bleiben maximal 15 Minuten. Obwohl ich den Fahrplan auswendig kann, sage ich “Ja klar, wart mal eben” und hole mein Smartphone aus dem Schlafzimmer. Als ich zurück in die Küche komme, ist sie schon aufgestanden und hat den Teller und die Tasse auf die Spüle gestellt. “Ich zieh mich mal eben an” “okay, ich guck so lange wann der Bus kommt.” Alibimäßig tippe ich auf meinem Smartphone herum und checke in Wahrheit E-Mails, Facebook, Whatsapp. Nichts Wichtiges. Ich gehe zurück ins Schlafzimmer und sehe gerade noch, das sie ein Tattoo auf dem Rücken hat, nichts Großes, aber in dem Bruchteil der Sekunde nicht weiter erkennbar. “räusper… also der nächste Bus kommt in 10 Minuten und dann wieder in 20. Wenn du jetzt losgehst, schaffst du es gerade so zur Haltestelle.” “Okay!” Sie schnappt sich ihre Handtasche, schüttelt noch einmal ihre Haare aus und zieht sich dann ihre Schuhe an. Jetzt oder nie. Sonst ist sie weg und du kannst sie vergessen. Ich nehme allen meinen Mut zusammen und frage sie “Wir schreiben mal, oder?” Innerliche Ohrfeige. Dümmste Möglichkeit zu fragen überhaupt. Sie grinst mich an. Macht die Haustür auf, dreht sich dann aber doch noch einmal um. Der Abschiedskuss ist der wohl schönste Kuss den ich jemals erleben durfte. Die Zeit bleibt stehen. Wir. Hier. Jetzt. Für immer. Abrupt werde ich mit den Worten “Klar, schreib mir einfach bei Facebook. Meinen Namen hast du ja.” in die Realität zurück geholt. Bevor ich etwas sagen kann ist die Haustür wieder ins Schloss gefallen und sie im Hausflur verschwunden. Das Einzige, was ich in dem Moment denken kann, ist Verdammter Absinth! Immerhin eine Erinnerung ist wieder da. Es wird die einzige bleiben.

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