Staub(ge)schichten

Mit dem ihm so vertrauten Klack schnappte das Schloss einmal zurück und ließ die Tür sanft aus dem Rahmen springen. Er atmete tief durch. Langsam, nur mit dem Zeigefinger drückte er die ausgeblichene, ehemals weiße und mit einem Vorhang verhangene Tür auf. Knarzend gab sie den Blick auf den dunklen Flur frei den er seit gut vier Wochen nicht mehr betreten hatte. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Die Tapete. Die Garderobe. Der Brandfleck im Parkett von den Wunderkerzen an Silvester. Alles war noch da wo es sein sollte. Relikte einer Zeit die so nicht mehr war. Nicht mehr sein würde. Einen tiefen Atemzug später stand er in der Wohnung. Zitternd. Die Hand immernoch an der äußeren Türklinke, zog er diese mit einem leichten Ruck nach hinten und machte den ihm so vertrauten Ausfallschritt nach Links, um dem Gewicht aus Holz und Glas aus dem Weg zu gehen. In pavlovscher Manier öffnete er im selben Moment den Mund, um die gleichen Worte wie immer an den dünnen Wänden in schlechten Echos und einem zu lauten Fernseher untergehen zu lassen – aber es blieb Still. Er bekam keinen Ton heraus. Da waren keine Echos und kein Fernseher. Nur sein kurzer, schneller Atem und die krachend hinter ihm ins Schloss fallende Tür.

Der Stillstand von vier Wochen war nur allzu deutlich wahrzunehmen. Niemand hatte gelüftet. Niemand hatte geputzt. Alles roch noch so wie er es verlassen hatte. Mit dem Finger über die kleine Kommode gegenüber der Garderobe fahrend, wirbelte er kleine Staubwolken auf die sich in ihrem Duft verloren und unbemerkt zu Boden gingen. Seine Gedanken verloren sich in diesem Eiland der Vergangenheit. Eines Abends hatte sie angefangen zu reden. Über ihre Vergangenheit. Ihre Geschichte. Hatte versucht ihn zu erklären warum sie in letzter Zeit so unnahbar gewesen war. Warum sie lieber nachts alleine durch die Stadt gelaufen war, anstatt mit ihm im Bett, auf dem Sofa oder dem Boden zu liegen. Hatte Skylar Grey zitiert und gesagt, dass sie gehofft hatte das es besser werden würde, weil es immer kurz vor der Dämmerung am Dunkelsten ist. Aber das die Dunkelheit immer stärker wurde und sie nicht glaube das die Dämmerung noch einmal kommen würde. Hatte Metapher um Metapher hervorgeholt um die Wahrheit noch nicht aussprechen zu müssen. Erzählte von den Jahren zuvor. Ihrer Harmonie. Ihrer Chemie. Ihrem grenzenloses Vertrauen. Ständig wiederholte sie was sie gehabt hatten. Nicht einmal bekam sie den Bogen in die Zukunft. Irgendwo im Labyrinth ihrer Wünsche und der Zeit hatte sie sich verlaufen.

Er nickte. Ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben, führten seine Muskeln die seit Jahrtausenden für Zustimmung bekannten Bewegungen aus. Den Kopf erst heben und dann wieder senken. Heben. Senken. Heben. Senken. Er führte die Bewegung aus wie ein Wackeldackel. Beeinflusst durch seine Umwelt – ohne zu wissen warum. Zuhören konnte er nicht mehr. Sein Kopf hatte auf Leerlauf geschaltet. Auf Sahara und Antarktis zugleich. Er wollte ihr auf seinen Schultern den Ausgang aus dem Labyrinth zeigen, wusste aber dass auch das nicht würde helfen können, da ihr Kompass schon lange keine Nadel mehr besaß. So saß er stumm auf dem Sofa und nickte. Hörte ihr zu wie sie ihre wichtigsten Sachen zusammen packte und nickte. Hörte ihr zu wie sie sagte das sie nun erstmal zu einer Freundin ziehen würde und nickte. Hörte ihr zu wie sie die Tür hinter sich zu warf und nickte. Blieb noch lange einfach so auf dem Sofa sitzen, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Er saß einfach nur da und nickte. Völlig abgeschottet von der Welt.

Die Bilder verschwammen vor seinem geistigen Auge und ließen ihn auf den schwarzen leblosen Fernseher vor ihm blicken. Unbewusst war er zurück ins Wohzimmer gegangen. Vorbei an der Schrankwand. Vorbei an der Küche. Vorbei an dem quietschenden Sofa. Bis hin zum Fernseher in der Ecke. Eine dünne Staubschicht hatte sich auf dem Bildschirm gebildet, so dass das Bild darunter schlechter zu erkennen sein würde. Eigentlich wollte er nur seine DVDs holen. Stattdessen setzte er sich wieder aufs Sofa und starrte ins Nichts. Versuchte hier im Epizentrum den Grund für das Beben zu finden. Analyse um Analyse jedes vorgefallenen Streits führte er durch, aber nichts konnte ihre Handlung auch nur Ansatzweise erklären. Nichts konnte ihm sagen warum sie gegangen war, warum auch mehr Leuchtfeuer für den Weg zurück als es Strassenlatern in New York gab, keinen Sinn haben würden. Nichts konnte ihm erklären warum manche Gefühle einfach nicht mehr da sind. Genauso wenig wie er sich erklären konnte, warum seine damals da gewesen waren.

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2 Kommentare

  1. Hatte versucht ih „m“ zu erklären…

    ansonsten nice. wie kommst du auf dieses Thema gerade Stress oder einfach nur so?

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