Die Brücke

Nach dem Abbrennen der Kerzen verfiel das kühle Zimmer in Dunkelheit. Ihre dumpfen Schritte glitten über das Pakett, mit einem Ruck schloss sich hinter ihr die hölzerne Wohnungstür. Ein frischer Abendwind wehte ihr durchs strubbelige Haar. Die schwere Jacke wurde zugemacht, der Kragen an den Hals gepresst. Die selbstgedrehte Zigarette glimmte auf und der Rauch beruhigte ihre Sinne. Vorbei an den Lichtern der Fenster hinein in die Schwärze der Nacht. Scheinwerferlicht begleitete ihre Silouette, Sekunde für Sekunde wanderte ihr Schatten einen Schritt voraus, während die offenen Schnürsenkel immer und immer wieder in die dunklen, verdreckten Pfützen eintauchten.

Das Rascheln der Laubbäume verstimmte je näher sie dem Ende der pechschwarzen Allee kam. Als sie langsam auf der Brücke ankam, nahmen die Motorengeräusche zu. Die stark befahrene Brücke glich einer Spielweise für weiße und rote Lichter, die in der Dunkelheit der Nacht verschnörkelte Lichtspiele in die Luft prohezierten. Sie suchte sich die mittigste Stelle des gewaltigen Stahlmonsters und schnippste den angekokelten Filter herunter. Langsam umfasste sie die von Rost zerfressenen Geländer, die noch frischen Wunden an den Armen ziepten dabei leicht. Die Geländer fühlten sich rau und kalt an. Unter ihr erstreckte sich das monströse Loch einer undefinierbaren Tiefe in der Dunkelheit. Langsam ließen ihre Finger das Eisen los. Ihre Füße stellten sich auf den untersten Geländerrand, welcher rutschig und morsch wirkte. Sie atmete tief und langsam die frische Brise des anhaltenden Windes ein. Der seltsam ruhige Körper neigte sich langsam nach vorne und ihre Brust wurde gegen die Stahlpfosten gedrängt. Sie schloss die Augen, atmete langsam ein und hielt minutenlang inne.

War dies der Weg wie alles enden sollte? War sie gleich eine von vielen, die den Weg von der Brücke nie zurück geschafft hatten? Ihr Leben war ihr nie wichtig. Es war alles andere als schön. Doch immer und immer wieder rappelte sie sich erneut auf und besiegte ihren schwachen Verstand. Wollte sie zu den anderen auf dem Grund der Dunkelheit dazugehören? Was trieb sie nur hierher? Tränen kullerten ihre zerkratzten Wangen herunter. Das pechschwarze Haar kämte sie mit ihren Finger zurück. Ihre Pupillen fixierten die Sterne, um nicht noch mehr Tränen zu vergießen. Sie war dafür nicht bereit. Ihr Herz wollte leben. Sie wollte leben. Sie wollte immer Kinder haben, sie groß ziehen und ihnen beim Spielen vom Fenster aus winken.

Langsam krallte sie sich wieder am kalten Eisen fest. Ihre Lippen schmeckten salzig. Mit ihrem Ärmel wischte sie sich ihr Gesicht sauber. Vorsichtig trat sie von der unteren Geländehalterung herunter und hatte wieder festen Boden aus Stein unter sich. Die Lichter der Autos verformten sich wieder zu langen Schweifen und glitten durch die Dunkelheit der Nacht. Zum ersten Mal seit langer Zeit bekam sie ein Lächeln zustande. Sie wollte leben, einfach nur leben und nicht mehr feige handeln. Sie wollte ein neues Leben beginnen, so richtig bei Null anfangen. All diese Gedanken lösten bei Ihr pure Glückshormone aus. Sie wollte leben, sie wollte laufen. Einen Schritt vor den anderen und schon lief sie bis ans Brückenende herunter, weg vom Ort der Traurigkeit und des Todes. Freudestränen kullerten ihre Wangen entlang und verpufften in ihrem Windschatten.

Völlig energisch und voll von Lebensfreude rannte sie über die Straße. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen, als sich das grelle und laute Licht schlagartig näherte. Und dann wurde es dunkel.

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